Otto Kayser/ Kommentar zum „Portrait“ von 1996 

bezieht sich auf eine Reportage [XX] über mich aus dem Jahr 1996 

 

15 Jahre Frankreich

Nun bin ich bereits seit 15 Jahren hier im „Süd-Westen“ (1990/91 bin ich hier hergezogen). Das erfordert eine erneute Stellungnahme. Hinter einer „Auswanderung„ steht natürlich immer eine gewisse Hoffnung, dass die Bedingungen im neuen Land besser wären. Das betraf bei mir vor allem Klima und Wohn-Möglichkeiten, beruflich war es eher von Anfang an ein Risiko. Da ich aber relativ flexibel bin, suchte ich dieses Risiko sogar, wobei meine Flexibilität eher verschiedene Berufe, als meine Kompromissfähigkeit an sich betrifft.

1990 war ich 50, in diesem Alter ist die Integrationsfähigkeit bereits begrenzt. Aber wenn man sich eine gewisse Offenheit bewahrt hat, ist das sogar von Vorteil, weil man noch in der Lage ist beide Kulturen mit einem relativ objektiven Abstand zu betrachten (auf meine österreichische Herkunft bezogen, und 20 Jahre in Deutschland, sind es im Grunde genommen ja 3 Kulturen). Da meine damalige deutsche Lebensgefährtin nicht bereit war, meine persönliche Veränderung mitzumachen, war ich doppelt gezwungen mich in die neue Gesellschaft zu integrieren. Die Franzosen legen eine enorme Wichtigkeit auf die Beherrschung ihrer Sprache
[X•], wenn das auch eher den formalen als inhaltlichen Aspekt betrifft. Anfangs waren meine Französisch-Kenntnisse begrenzt, daher konzentrierte ich mich wieder mehr auf meine bildnerischen Fähigkeiten. Das führte auch prompt zu einem überraschenden Erfolg, der nicht zuletzt auf mein ehrliches Interesse für die neue Umgebung zurückzuführen war.


Am Anfang versucht man natürlich sich zu integriere, d.h. man stellt seine persönlichen Ansichten eher zurück, interessiert sich, hört zu, und versucht weniger als sonst, sich persönlich durchzusetzen, oder in den Vordergrund zu spielen. Dadurch kommt einem viel Sympathie entgegen, die aber nicht selten auf einer gegenseitigen Fehleinschätzung

beruht. Mit der Zeit, und den besseren Sprachkenntnissen, klärt sich die Situation zusehends. Man erkennt nicht nur die Grundlagen der anderen Kultur, sondern auch die Stellung der neu erwählten Heimat innerhalb dieser Kultur, d.h. hier der Gascogne (Gers) innerhalb Frankreichs. Und das bedeutet gegenüber Paris eine ziemliche Provinzialität (im Klartext eine gewisses Minderwertigkeits-Gefühl der Region). Frankreich war nie föderal-, sondern immer zentralistisch organisiert – wer nicht um Paris zuhause ist, zählt sozusagen als Mensch 2. Klasse, als Kolonie. Das ist auch geschichtlich bedingt, weil der Süden tatsächlich im 16. Jhd. ziemlich brutal „kolonisiert“ wurde. Hier existierte vorher nicht nur eine andere Sprache (Okzitan, romanische Sprache ohne Nasal-Laute), sondern auch eine andere Religion (ehemaliges Zentrum des Protestantismus und der Katarer). Eine Tatsache, die im übrigen Europa kaum bekannt ist.

In der 3. Republik hat man auch versucht alles Regionale (Dialekt, Trachten, Bräuche, Volkslieder etc.) prinzipiell zu unterdrücken, zugunsten einer gleichmachenden Citoyenneté (Staatsbürgertum). Im Gers war es z.B. üblich einem Kind, welches in der Schule Okzitan (seine Muttersprache) sprach, einen Holzknüppel um den Hals zu hängen. Erst wenn es ein anderes Kind beim Okzitan-Sprechen erwischte, konnte es den Knüppel an dieses wieder loswerden. Das zählt zur Erfahrung noch heute lebender alter Leute. Der Verlust des eigenen Ausdrucks -  noch dazu mit solchen Methoden - wirkt sich natürlich nicht gerade positiv auf den Charakter einer Region aus. Ganz allgemein ist der viel gerühmte französische Individualismus eher als renitente Reaktion auf diese Gleichmacherei zu verstehen, denn als wirkliche individuelle und geistige Freiheit. Das äußert sich in einer schizophrenen Mischung aus prinzipiellem Widerspruchsgeist und egoistischem Rückzug.  


Ganz im Gegensatz zum öffentlichen Ruf Frankreichs als „Erfinder“ der „Droits de l’Homme“ (Menschenrechte) ist Frankreichs Geschichte, gerade in dieser Hinsicht, nicht so hell wie man meinen möchte. Die dunklen Flecken werden aber bis in die Gegenwart hinein erfolgreich verdrängt. Das hat zur Folge hat, dass nicht nur zwischen öffentlichem Bild und Wirklichkeit ein ziemlicher Unterschied besteht, sonder dass sich das auch im praktischen Leben fortsetzt, z.B. zwischen dem was gesprochen wird, und was dahinter gemeint ist  – und das geht durch alle zwischenmenschlichen Beziehungen und Schichten der Gesellschaft. Das Misstrauen zwischen den Menschen ist daher wesentlich ausgeprägter als in Deutschland. Kontakte sind weniger herzlich als formal, und begrenzen sich mehr auf die Familie. Der 3-mal höhere Konsum von Beruhigungsmitteln und eine 3-mal höhere Selbstmordrate als im übrigen Europa (Erhebungen Mitte der 90iger Jahre), sind nicht zuletzt auf dieses gesellschaftliche Klima zurückzuführen. 2007 zählt das höhere Management täglich einen Selbstmord.

Da Frankreich sich in der jüngsten Geschichte in beiden Weltkriegen als Angegriffener, und letztlich als Sieger versteht, war es - ganz anders als Deutschland - nie gezwungen sich in Frage zu stellen. Das erzeugt eine übertriebene nationale Selbstgerechtigkeit, ein Verharren in erstarrten gestrigen Vorstellungen, was viele notwendige Reformen verhindert. Dadurch verliert Frankreich aber auch international immer mehr an Bedeutung, und die viel gerühmte Francophonie (Gemeinschaft französisch sprechende Völker) verkommt immer mehr zu einer Chimäre. So hat die Tatsache, dass die Franzosen Ende Mai 2005 in der Mehrheit gegen die EU-Verfassung stimmten, vielschichtige psychologische Gründe. Einerseits ist es die zuvor erwähnte Abneigung gegen einen Zentralismus, unter dem man ja schon seit langer Zeit im eigenen Land leidet. Andererseits ist es aber das genaue Gegenteil, nämlich das übertriebene Selbstbewusstsein der Grande Nation“
[X•] die bei einer gemeinsamen EU-Verfassung etwas von ihrer zentralen und dominanten Stellung einbüßen würde. Der momentane Minister-Präsident Jaques Jirac ist ein typischer  Ausdruck der gegenwärtigen französischen Bewusstseins-Krise, denn obwohl er noch versucht die Geste französischer Größe aufrecht zu erhalten, genießt er im eigenen Land doch die geringste Popularität, die je ein französischer Präsident erreichte.

 

Die  2005 an die Franzosen gerichteten Appelle vom deutschen Außenministers Fischer oder von Bundeskanzler Schröder, dem EU-Vertragswerk doch zuzustimmen, lassen auf ein naives deutsches Verkennen des französischen Volkscharakters schließen. Mit solchen Aufforderungen erreicht man bei Franzosen lediglich das Gegenteil, da Franzosen ihre Individualität vor allem im „Dagegen-Sein“ erleben. Das kann man im kleinen Stil immer wieder in französischen Gruppen erleben, z.B. wenn es darum geht, sich für ein gemeinsames Restaurant zu entschließen, oder in intellektuellen Debatten, wo es mehr darum geht, sich durch eine andere- statt eine eigene Meinung hervorzutun. Anders als in Deutschland ist der gemeinsame Konsens nicht das wirklich angestrebte Ziel. Besonders von Nachfahren deutsch-jüdischer Immigranten - die übrigens meist kein Deutsch mehr sprechen - bekam ich anfangs immer wieder den Rat: „Wenn du hier was erreichen willst, dann mach’ am besten das Gegenteil“. Etwas, das ich heute durchaus bestätigen kann, und das bis in die Liebesbeziehungen hinein gilt. Man kann durchaus davon sprechen, dass die Franzosen die Schizophrenie des Lebens an sich, noch kultiviert haben.

 

Da ich als anpassungsfähiger Österreicher die ehrliche Geradheit der Berliner schätzen lernte, bedeutete mir die erneute Umstellung in Frankreich einige Schwierigkeiten. Hier sollte man nämlich nicht glauben, dass eine gegenteilige Meinung ehrlich wäre, meistens ist sie lediglich formalistisch, nicht einmal taktisch. Letztlich endet das – wie bei Franzosen untereinander selbst – in formeller mitmenschlicher Abgrenzung, oder banaler ausgedrückt in einer zunehmenden Distanz zu anderen. Das berühmte „Savoir vivre“ der Franzosen entpuppt sich mit der Zeit doch als ziemlich veraltetes Klischee – das nicht einmal mehr auf die französischen Essgewohnheiten zutrifft. Die Deutschen mit ihrem ewigen kulturellen Minderwertigkeitskomplex, verstärkt durch die Schuld aus dem 3. Reich, sehen Frankreich prinzipiell durch eine rosarote Brille. Und als Ausländer, d.h. als Gast, hat man sozusagen kein Recht den Gastgeber bloßzustellen – das ist unhöflich (in Frankreich doppelt). Auch im jetzt vereinigten Europa bemüht man sich natürlich keine alten Vorurteile aufkommen zu lassen, was meist im gegenseitigen Wegschauen endet.

Für einen kritischen und unabhängigen Europäer - als den ich mich verstehe - macht all’ das die Verständigung, und soziale Positionierung nicht einfacher. Wenn ich in all’ den Jahren hier etwas gelernt habe, dann war es meine verschiedenen kulturellen Erfahrungen zu verbinden und dadurch mehr Authentizität zu entwickeln. Dabei spielte gerade der französische Individualismus - wie vordergründig er auch sein mag - eine entscheidende Rolle.

 

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 © Otto Kayser

          

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